Visual Processing Lab
(Sektion für klinische und experimentelle Sinnesphysiologie)

Albinismus - Sehnerven auf Abwegen

Eine allgemeinverständliche Einführung zur Sehbahnveränderung bei Albinismus - von M.B. Hoffmann (2005)
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In der Regel wird beim Menschen die Information von einem Auge zu etwa gleichen Teilen auf beide Hirnhälften verteilt. Seit den 60er Jahren ist bekannt, dass diese Aufteilung der Information bei Albinismus verändert ist, die Information eines Auges erreicht vor allem die gegenüberliegende Hirnhälfte. Wie kommt das Gehirn mit dieser ungewöhnlichen Situation zurecht?


Inhalt: Ordnung muss sein - die Organisation des Sehzentrums
Albinismus - eigenwillige Sehnerven
Falsch verbunden? - Das Sehzentrum behält den Durchblick!
Abbildungen: Sehbahn im Normalfall
Sehbahn bei Albinismus

Ordnung muss sein - die Organisation des Sehzentrums oben

Öffnen Sie Ihre Augen und schauen Sie auf ein Objekt vor Ihnen. Alles, was Sie jetzt ohne Ihre Augen zu bewegen sehen, ist Ihr Gesichtsfeld. Es enthält eine überwältigende Menge an Informationen über Ihre Umwelt, die Ihnen erst durch die enorme Verarbeitungsleistung Ihres Gehirns zugänglich wird. Eine große Rolle spielt bei dieser Verarbeitung das Sehzentrum. Es sitzt erstaunlich weit weg von den Augen, nämlich am hinteren Teil des Gehirns auf der linken und rechten Hirnhälfte. Betrachten wir also zunächst, wie die Information von den Augen dorthin kommt. Rund eine Million Nervenfasern verlassen das Auge als Sehnerv und verlaufen gemeinsam bis zur Sehnervenkreuzung. Ab dort kreuzt ein Teil der Fasern zur gegenüberliegenden Hirnhälfte, während der andere Teil auf der Hirnhälfte bleibt, auf der er das Auge verlassen hat. Diese Aufteilung der Information aus dem Auge auf beide Hirnhälften folgt dabei einem strengen Prinzip. Alles, was im Gesichtsfeld rechts von der Blickrichtung liegt, also die rechte Gesichtsfeldhälfte, erreicht die linke Hirnhälfte und alles, was links liegt, also die linke Gesichtsfeldhälfte, erreicht die rechte Hirnhälfte. Im Beispiel aus Schaubild 1 werden also die links zu sehenden schwarzen Hände auf der rechten Hirnhälfte, und die rechts zu sehenden grauen Hände auf der linken Hirnhälfte verarbeitet. Im Schaubild nicht dargestellt - da es sich der übersichtlichkeit halber nur mit dem Sehnerven des linken Auges befasst - ist die Tatsache, dass beide Augen mit dem Sehzentrum verbunden sind und daher die Information über die jeweilige Gesichtsfeldhälfe im Sehzentrum doppelt vorliegt. Das ist für uns in der Regel von großem Nutzen, denn die Bilder beider Augen unterscheiden sich aufgrund des unterschiedlichen Blickwinkels der Augen leicht voneinander. Aus diesen kleinen Bildunterschieden kann das Gehirn die Entfernung von Objekten in unserer Umgebung berechnen. Dies ist zwar nicht die einzige, aber eine sehr effektive Möglichkeit unseres Sehsystems, Entfernungen in unserer Umgebung zu ermitteln und die Umwelt räumlich wahrzunehmen.

Im Sehzentrum ist die Information über das Gesichtsfeld in gewisser Weise wie eine Abbildung organisiert. Orte, die im Gesichtsfeld benachbart sind, werden auch im Sehzentrum von benachbarten Nervenzellen repräsentiert. Allerdings hat die Abbildung im Sehzentrum zwei Eigentümlichkeiten, die im Schaubild 1 verdeutlicht sind: Zum einen steht die Abbildung auf dem Kopf, zum anderen ist sie verzerrt. Alles, was im Blickmittelpunkt zu sehen ist, nimmt mehr Platz in der Abbildung ein als das, was außen liegt. Das passt auch zu unserem Verhalten. In der Regel richten wir ja unseren Blick auf die Dinge, die uns interessieren. Wir bringen sie so in den Blickmittelpunkt und erreichen damit, dass sich im Gehirn mehr Nervenzellen mit ihrer Verarbeitung beschäftigen können.

Das Gehirn gibt sich also große Mühe, die Information aus den Augen wie eine Abbildung des Gesichtsfeldes zu organisieren und zwar auf jeder Hirnhälfte eine Abbildung der jeweils gegenüberliegenden Gesichtsfeldhälfte. Wie wir gesehen haben, ist ein entscheidender Punkt dabei, dass die Information der Augen systematisch auf beide Hirnhälften verteilt wird. Was passiert aber, wenn diese Verteilung der Information, wie beispielsweise bei Menschen mit Albinismus, verändert ist?

Albinismus - eigenwillige Sehnerven oben

Schaubild 2 am Beispiel des linken Auges verdeutlicht, es kreuzen nicht nur die schwarzen, sondern auch die grau dargestellten Fasern. Diese ungewöhnliche Kreuzung der Sehnerven hat zwei entscheidende Konsequenzen: Erstens liegt für einen Großteil der Repräsentation des Gesichtsfeldes im Sehzentrum nicht mehr die Information beider Augen vor. Dies scheint unter anderem mit der häufig bei Menschen mit Albinismus zu beobachtenden Einschränkung des räumlichen Sehens in Zusammenhang zu stehen - allerdings spielt hierbei auch das häufig auftretende Schielen eine Rolle. Zweitens landet im Sehzentrum einer Hirnhälfte nicht nur wie gewöhnlich die Information aus der gegenüberliegenden, sondern auch aus einem Teil der gleichseitigen Gesichtsfeldhälfte. So verarbeitet jetzt beispielsweise das Sehzentrum der rechten Hirnhälfte nicht nur die linke Gesichtsfeldhälfte, also die schwarzen Hände in Schaubild 2, sondern auch Teile der rechten Gesichtsfeldhälfte, also die grauen Hände.
Zunächst sind wir der Frage nachgegangen, ob es ein großer Teil des Gesichtsfeldes ist, der auf der ’falschen' Hirnhälfte repräsentiert ist. Dabei haben wir festgestellt, dass in den meisten Fällen ein Streifen links und rechts neben dem Blickzentrum betroffen ist, der bei ausgestrecktem Arm größer als zwei handbreit ist. Dies ist im Schaubild 2 rechts gezeigt. In einigen wenigen Fällen ist der betroffene Streifen allerdings bei ausgestrecktem Arm weniger als zwei Finger breit ist. Dies ist im Schaubild 2 links gezeigt. In der Regel ist also ein großer Teil des Gesichtsfeldes betroffen, manchmal aber auch nur ein recht kleiner. Wodurch diese Unterschiede zustande kommen und welche Auswirkungen sie auf das Sehen bei Menschen mit Albinismus haben, ist Gegenstand unserer augenblicklichen Forschungen. So ist bei Albinismus beispielsweise die Sehschärfe unterschiedlich stark herabgesetzt. Denkbar wäre also, dass der Grad der Beeinträchtigung der Sehschärfe durch das Ausmaß der falschen Repräsentation bedingt ist. Bislang sind wir allerdings auf keinen solchen Zusammenhang gestoßen.

Falsch verbunden? - Das Sehzentrum behält den Durchblick! oben

Trägt der Teil des Gesichtsfeldes, der bei Albinismus nicht auf der richtigen Hirnhälfte repräsentiert ist, überhaupt zum Sehen bei? Es wäre auch möglich, dass der falsch repräsentierte Gesichtsfeldteil ausgeblendet wird und man folglich an der entsprechenden Stelle im Gesichtsfeld blind ist. Um das zu testen, haben wir den Teilnehmern unserer Studie nacheinander Lichtpunkte an verschiedenen Stellen des Gesichtsfeldes gezeigt und sie gebeten durch Knopfdruck zu signalisieren, wenn sie die Punkte gesehen haben. Bei dieser Untersuchung wurden auch Lichtpunkte, die in dem falsch repräsentierten Teil des Gesichtsfeldes gezeigt wurden, wahrgenommen. Das ist keine Trivialität, denn es zeigt, dass die Information, die ’irrtümlicherweise' im Sehzentrum eintrifft, tatsächlich vom Gehirn verwertet wird.

Wie oben beschrieben, ist das Sehzentrum auf größte Ordnung bedacht, und sortiert die ankommende Information penibel, so dass auf jeder Gehirnhälfte gewissermaßen eine Abbildung der gegenüberliegenden Gesichtsfeldhälfte entsteht. Bei Albinismus muss das Sehzentrum zusätzlich zu der Information aus der gegenüberliegenden Gesichtsfeldhälfte die Extra-Information aus der ’falschen' Gesichtsfeldhälfte in dieser Abbildung unterbringen. Dies scheint ihm zu gelingen, sonst würden die Lichtpunkte im entsprechenden Gesichtsfeldbereich ja nicht gesehen. Tatsächlich haben wir im Rahmen unserer Studien festgestellt, dass im Sehzentrum auch aus der Extra-Information über die ’falsche' Gesichtfeldhälfte eine geordnete Abbildung entsteht. So sind im Beispiel in Schaubild 2 auf der rechten Hirnhälfte, zusätzlich zu den schwarzen Händen auch die grauen Hände aus der rechten Gesichtsfeldhälfte als Abbildung organisiert. Interessanterweise ist diese Abbildung mit der ’normalen' Abbildung des gegenüberliegenden Gesichtsfeldes verschachtelt. Ob das Gehirn die ineinander verschachtelten Karten manchmal durcheinander bringt oder beide Karten immer genau auseinander halten kann, wissen wir noch nicht und werden es in Zukunft untersuchen.

Wie wir gesehen haben, ist bei Albinismus die Aufteilung der Information aus den Augen auf beide Hirnhälften verändert. Dies ist eine Herausforderung an die Anpassungsfähigkeit des Sehzentrums. Unsere bisherigen Untersuchungen zeigen, dass das Sehzentrum diese Herausforderung annimmt. Wir sind gespannt, herauszufinden, was es im Detail unternommen hat, um mit der ungewöhnlichen Situation zurechtzukommen und werden Sie über unsere Fortschritte auf dem Laufenden halten.
Last update by Michael Hoffmann 03.01.2013