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  Medizinische Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg
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  PMI Nr: 60 / Datum: 21.06.2006

  Innovationspreis 2006 für Magdeburger Neurowissenschaftlerin
 
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Nerven aus der Retorte?  
 
Alljährlich verleiht die Stiftung Familie Klee den Innovationspreis für eine wissenschaftliche Leistung, die "es durch neuartige Kombination medizinischer und technischer Kenntnisse ermöglicht, Krankheiten zu heilen, ihre Therapie zu verbessern oder die Auswirkungen der Krankheit zu mildern", so der Stiftungsgründer Gerhard Klee.  
 
In diesem Jahr geht der mit 12.500 Euro dotierte Preis an Privatdozentin Dr. Gerburg Keilhoff aus dem Institut für Medizinische Neurobiologie der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie erhält den Preis gemeinsam mit Privatdozent Dr. Hisham Fansa, Chefarzt der Klinik für Plastische, Wiederherstellungs- und Ästhetische Chirurgie der Städtischen Kliniken Bielefeld, der von 1996 bis 2003 als Arzt an der hiesigen Universitätsklinik tätig war, für die gemeinsamen Arbeiten zur Regeneration des peripheren Nervensystems nach Verletzungen. Die Preisverleihung fand am 9. Juni 2006 in Frankfurt/Main statt.  
 
Das prämierte Forschungsprojekt "Tissue Engineering von alternativen Nerventransplantaten zur Überbrückung langstreckiger Defekte peripherer Nerven" vereint moderne Methoden und das theoretische Wissen der neurobiologischen Grundlagenforschung auf ideale Weise mit den Bedürfnissen der Klinik. Dies war neben dem technischen Know-how der entscheidende Grund für den Stiftungsrat der Stiftung Familie Klee, mit dem diesjährigen Innovationspreis die jahrelange enge Zusammenarbeit der Biologin, PD Dr. Gerburg Keilhoff, und des Mediziners, PD Dr. Hisham Fansa, auszuzeichnen.  
 
Wenn Nervenfasern durch einen Unfall verletzt oder abgetrennt werden, müssen sie wieder zusammengenäht werden, um ihnen die Chance zur Regeneration zu geben. Bei komplexen Nervenverletzungen sind meist Operationen mit Nerventransplantationen notwendig. Der Standard in der heutigen Therapie besteht in der autologen Transplantation, das heißt, es werden gesunde, körpereigene Nerven entnommen, um langstreckige Defekte zu überbrücken. Dabei entstehen im Entnahmegebiet deutliche neurologische Defizite, und meist ist körpereigenes Material ohnehin nicht ausreichend vorhanden.  
 
Daher sind Wissenschaftler weltweit auf der Suche nach alternativen Nerventransplantate. Dabei haben biogene bzw. biokompatible Trägermaterialien in den vergangenen Jahren im experimentellen Bereich immer mehr an Bedeutung gewonnen. Zu ihnen gehören zum Beispiel speziell präparierte Muskelfasern. Im Tierversuch wird dieses Muskelgewebe so vorbereitet, dass es "Schwannzellen" aufnehmen kann. Diese Zellen sind für das Nervenwachstum aber auch für die Nervenregeneration unabdingbar. Die von den beiden Preisträgern vorgelegten Ergebnisse bieten Möglichkeiten für ganz neue Therapiestrategien bei der Wiederherstellung der Funktion bei komplexen Nervenverletzungen.  
 
Personalia:  
Privatdozentin Dr. rer. nat. Gerburg Keilhoff, Jahrgang 1956, absolvierte bis 1979 ein Biologiestudium im heutigen Moldawien und nahm anschließend eine Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medizinische Biologie an der damaligen Medizinischen Akademie Magdeburg auf. An derselben Einrichtung, dem heutigen Uni-Institut für Medizinische Neurobiologie, ist die Hochschullehrerin seit nunmehr 27 Jahren tätig.  
 
Der Preisträger, Privatdozent Dr. med. Hisham Fansa, Jahrgang 1969, studierte nach dem Abitur in seiner Heimatstadt Hannover Humanmedizin. Studien- und Forschungsaufenthalte führten ihn während und nach dem Studium nach London und in die USA. Hisham Fansa war bis 2003 als Assistenzarzt an der Magdeburger Uni-Klinik für Plastische, Wiederherstellungs- und Handchirurgie tätig. Derzeit arbeitet PD Dr. Fansa als Chefarzt im Städtischen Klinikum Bielefeld-Mitte.  
 
 
Nähere Informationen zum Forschungsprojekt "Tissue Engineering von alternativen Nerventransplantaten zur Überbrückung langstreckiger Defekte peripherer Nerven":  
 
Die Versorgung komplexer Nervenverletzungen geht trotz eines hohen medizinischen Standards oft mit bleibenden Defiziten einher. Das bedeutet für die Patienten eine andauernde Behinderung, die unter anderem auch volkswirtschaftlich beträchtliche Kosten verursacht. 20 Prozent der ausgezahlten Berufsunfähigkeitsrenten werden aufgrund von Funktionseinbußen nach Nervenverletzungen der oberen Extremität notwendig.  
 
Misslingt eine primäre Nervennaht, der so genannte Goldstandard bei der Behandlung von Nervendefekten, ist die autologe (körpereigene) Transplantation zur Defekt-Überbrückung eine etablierte Methode in der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie. Das dafür erforderliche Nerventransplantat wird allerdings oft zum limitierenden Faktor, da die Anzahl der zur Verfügung stehenden körpereigenen Spendernerven begrenzt ist. Außerdem ist eine zweite Operation erforderlich, die auch noch zu Sensitivitätsverlusten im Entnahmegebiet führt.  
 
Alternativ praktizierte Methoden zur Überbrückung weitreichender Defekte im peripheren Nervensystem, etwa mit biokompatiblen Kunststoffen, zeigen eine nur unzureichende Regeneration, da sie die für den Regenerationsprozess eines peripheren Nerven unerlässlichen Schwannzellen nicht berücksichtigen. Die Transplantation allogener (körperfremder) Spendernerven ist mit den Risiken einer lebenslangen Immunsuppression verbunden und somit in der Humanmedizin derzeit nicht vertretbar.  
 
Im prämierten Projekt wurde ein Defekt des N. ischiadicus der Ratte versuchsweise mit einer Vielzahl alternativer Transplantate überbrückt. Dafür wurden zunächst Schwannzellen gezüchtet und in das jeweilige Trägermaterial (Muskeln, Venen, Nerven, Perineurium, Collagen-Tuben) eingebracht.  
 
Da die Kultivation adulter, post-mitotischer Schwannzellen nicht problemlos ist, wurden adulte mesenchymale Stammzellen des Knochenmarks als Alternative getestet. Sie differenzieren "standesgemäß" in Knochen-, Knorpel-, Sehnen- und Fettgewebe. Ihr entwicklungsbiologisches Potenzial ist jedoch weit größer: Sie sind zur Transdifferenzierung befähigt, können zum Beispiel in Skelett- und Herzmuskeln, in Leberzellen und auch in die verschiedenen Zelltypen des Nervensystems differenziert werden. Durch die Differenzierung reduziert sich ihre teratogene (Tumor-induzierende) Potenz deutlich. Im prämierten Projekt wurden mit einer Reihe hierzu eigens entwickelter Tricks die adulten Stammzellen in "Schwannzell-ähnliche" Zellen transdifferenziert und diese zur Myelinisierung befähigten Zellen alternativ in die entsprechenden Trägermaterialien eingebracht.  
 
In allen Fällen gelang es, mit den alternativen Transplantaten eine endogene Regenerationsschiene (Neonerv) für den lädierten Nerven zu erstellen, mit der die limitierenden Punkte der heute klinisch eingesetzten Methoden ausgeräumt werden können. Die von den Preisträgern erzielten tierexperimentellen Ergebnisse bieten ganz neue Therapiestrategien für die Wiederherstellung der Funktion bei komplexen Nervenverletzungen. Durch den Einsatz alternativer biogener Nerventransplantate kann die Traumatisierung und die Operationszeit und damit auch die Zeit bis zur funktionellen Wiederherstellung des Patienten drastisch reduziert werden. Außerdem ist eine deutlich bessere Regeneration und damit eine Verbesserung der Lebensqualität für die Patienten zu erwarten. Da Muskelgewebe nahezu unbegrenzt verfügbar und durch entsprechende Vorbehandlung immunologisch kompatibel ist, lassen sich Gewebebanken anlegen, aus denen bei Bedarf Trägermaterial für Regenerationsleitschienen rekrutiert werden können.  
 
Die mit den transdifferenzierten Stammzellen erhaltenen Ergebnisse sollen nicht nur in der regenerativen plastischen Chirurgie eingesetzt werden. Auch bei der Behandlung zentralnervaler neurodegenerativer Erkrankungen, allen voran der Multiplen Sklerose, wird in zunehmendem Maße nach "bio-technologischen" Lösungen gesucht. Hier könnten die zur Myelinisierung befähigten transdifferenzierten Zellen sehr hilfreich sein. Es ist bekannt, dass die Multiple Sklerose eine De-Myelinisierungskrankheit ist, bei der offensichtlich nicht nur das eigene Immunsystem fehlerhaft arbeitet, sondern auch die myelinisierenden Zellen des Zentralen Nervensystems, die Oligodendrogliazellen, Charakteristika aufweisen, die sie besonders anfällig für die massiven Autoimmunattacken machen. Da Schwannzellen und auch die transdifferenzierten Stammzellen solche Defekte nicht aufweisen, scheinen sie geradezu prädestiniert, in Modellversuchen zur Multiplen Sklerose eingesetzt zu werden.  


 

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