Eigenständiger Gedächtnistest per Smartphone kann Vorzeichen von Alzheimer erkennen
Digitaler Ansatz soll Weg für bessere Frühdiagnostik bereiten
Mit speziellen Testaufgaben auf dem Smartphone lassen sich „leichte kognitive Beeinträchtigungen“ – die auf eine Alzheimer-Erkrankung hindeuten können – mit hoher Genauigkeit erkennen. Das berichten Forschende des DZNE, der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und der US-amerikanischen University of Wisconsin-Madison gemeinsam mit dem Magdeburger Unternehmen „neotiv“ im Wissenschaftsjournal „npj Digital Medicine“. Ihre Studie beruht auf Daten von 199 älteren Erwachsenen. Die Ergebnisse unterstreichen das Potenzial mobiler Apps für die Alzheimer-Forschung, klinische Studien und die medizinische Routineversorgung. Die hier untersuchte App wird inzwischen Arztpraxen angeboten, um die Früherkennung von Gedächtnisproblemen zu unterstützen.
Störungen des Erinnerungsvermögens sind ein wesentliches Symptom der Alzheimer‘schen Erkrankung. Es ist daher naheliegend, dass der Schweregrad und die zeitliche Entwicklung solcher Gedächtnisprobleme bei der Diagnose der Erkrankung und in der Alzheimer-Forschung eine zentrale Rolle spielen. In der aktuellen klinischen Praxis werden solche Gedächtnistests unter Anleitung einer medizinischen Fachkraft durchgeführt. Die untersuchten Personen müssen dabei schriftlich oder im Zwiegespräch standardisierte Aufgaben lösen: sich zum Beispiel Wörter merken und wiederholen, spontan möglichst viele Begriffe zu einem bestimmten Thema nennen oder nach Vorgaben geometrische Figuren zeichnen. Alle diese Tests erfordern zwingend eine professionelle Betreuung, ansonsten sind die Ergebnisse nicht aussagekräftig. Diese Tests können daher nicht alleine, etwa zu Hause, durchgeführt werden.
Prof. Emrah Düzel, Neurowissenschaftler am DZNE-Standort Magdeburg und an der Universitätsmedizin Magdeburg sowie Unternehmer in der Medizintechnik, plädiert für einen neuen Ansatz: „Es hat Vorteile, wenn man solche Tests selbstständig durchführen kann und erst zur Auswertung der Ergebnisse eine Praxis aufsuchen muss. So wie man das zum Beispiel von einem Langzeit-EKG kennt. Solche Testungen ohne Aufsicht würden helfen, klinisch relevante Gedächtnisstörungen im Frühstadium zu erkennen und Krankheitsverläufe engmaschiger zu erfassen, als es heute möglich ist. Angesichts jüngster Entwicklungen in der Alzheimer-Therapie und neuer Behandlungsmöglichkeiten wird eine frühzeitige Diagnose immer bedeutsamer.“
Foto: Prof. Dr. Emrah Düzel. Fotografin: Sarah Kossmann/UMMD
Vergleich zwischen Selbsttests zu Hause und unter Aufsicht in der Klinik
Neben seiner Tätigkeit in der Demenzforschung ist Düzel auch „Chief Medical Officer” von „neotiv“, einem Magdeburger Start-up, mit dem das DZNE seit mehreren Jahren kooperiert. Das Unternehmen hat eine App entwickelt, die eigenständige Gedächtnistests ermöglicht, ohne dass dafür eine professionelle Betreuung erforderlich ist. Die Software läuft auf Smartphones und Tablets und ist wissenschaftlich validiert. Sie wird in der Alzheimer-Forschung verwendet und inzwischen auch als diagnostisches Hilfsmittel für Arztpraxen zur frühzeitigen Erkennung leichter kognitiver Beeinträchtigungen angeboten. Im Fachjargon spricht man auch von „Mild Cognitive Impairment“ – kurz: MCI. Zwar beeinträchtigt MCI den Alltag der betroffenen Personen nur wenig, allerdings haben sie ein erhöhtes Risiko innerhalb weniger Jahre eine Alzheimer-Demenz zu entwickeln.
Dr. David Berron, Forschungsgruppenleiter am DZNE und zugleich Mitgründer von neotiv, erläutert: „Als Bestandteil der Validierung haben wir sowohl dieses neuartige Testverfahren, das keine direkte Aufsicht benötigt, als auch eine etablierte neuropsychologische Untersuchung in der Klinik angewandt. Dabei hat sich gezeigt, dass die neue Methode mit klinischen Untersuchungen vergleichbar ist und leichte kognitive Beeinträchtigungen, auch bekannt als MCI, mit hoher Genauigkeit erkennt. Diese Technologie hat ein enormes Potenzial, Ärztinnen und Ärzten Informationen zur Verfügung zu stellen, die sich bei einem Patientenbesuch in der Klinik nicht ermitteln lassen.“ Diese Befunde wurden jetzt im renommierten Fachjournal „npj Digital Medicine“ veröffentlicht.
Teilnehmende aus Deutschland und den USA
An der aktuellen Studie nahmen insgesamt 199 Frauen und Männer im Alter über 60 Jahren teil. Sie waren entweder in Deutschland oder den USA verortet und jeweils in eine von zwei Langzeituntersuchungen eingebunden, die sich beide mit Alzheimer – der häufigsten Demenzerkrankung – befassen: der sogenannten DELCODE-Studie des DZNE beziehungsweise der WRAP-Studie der University of Wisconsin-Madison. Die Studiengruppe spiegelte unterschiedliche kognitive Zustände wider, die in der Praxis vorkommen: Sie umfasste Personen, die kognitiv gesund waren, Menschen mit MCI, sowie andere mit subjektiv empfundenen, jedoch nicht messbaren Gedächtnisbeschwerden. Grundlage für die Diagnose waren Untersuchungen nach einem etablierten Verfahren, das unter anderem Gedächtnis- und Sprachaufgaben beinhaltet. Außerdem führten alle Probanden über einen Zeitraum von mindestens sechs Wochen mehrfache Gedächtnistests mit der neotiv-App durch. Dazu nutzten sie eigene Smartphones oder Tablets. Die Probanden testeten sich selbstständig – und dort, wo immer es ihnen gelegen kam. „Die meisten unserer WRAP-Teilnehmer konnten die digitalen Aufgaben eigenständig erledigen und waren mit den Aufgaben und der digitalen Plattform zufrieden“, sagt Lindsay Clark von der University of Wisconsin-Madison. Die promovierte Neuropsychologin leitet dort die Studie „Assessing Memory with Mobile Devices“.
Bilder merken und Unterschiede erkennen
„Die Testung mit der neotiv-App ist interaktiv und umfasst drei Arten von Gedächtnisaufgaben. Damit werden jeweils unterschiedliche Bereiche des Gehirns angesprochen, die in verschiedenen Phasen einer Alzheimer-Erkrankung betroffen sein können. Dahinter steckt langjährige Forschungsarbeit“, erläutert Düzel. Im Wesentlichen geht es bei diesen Tests darum, sich Bilder zu merken oder Unterschiede zwischen Bildern zu erkennen, die von der App eingeblendet werden. Anhand eines eigens entwickelten Parameters konnte das deutsch-amerikanische Forschungsteam die Ergebnisse der App mit den Befunden der etablierten, klinischen Methode vergleichen.
„Unsere Studie zeigt, dass sich mit diesem digitalen Verfahren Gedächtnisbeschwerden aussagekräftig beurteilen lassen“, so Düzel. „Deuten die Ergebnisse des digitalen Tests darauf hin, dass eine für MCI typische Gedächtnisstörung vorliegt, ebnet dies den Weg für weitere klinische Untersuchungen. Weisen die Testergebnisse darauf hin, dass die Gedächtnisleistung im altersspezifischen Normalbereich liegt, kann man vorerst Entwarnung geben. Und für die Alzheimer-Forschung bietet sich hier ein digitales Instrument zur Beurteilung der kognitiven Fähigkeiten, das in klinischen Studien eingesetzt werden kann. In Deutschland, den USA, Schweden und anderen Ländern geschieht dies bereits.“
Ausblick
Weitere Untersuchungen sind in Vorbereitung oder schon angelaufen. Der neuartige Gedächtnistest soll an noch größeren Studiengruppen erprobt werden, zudem wollen die Forschenden untersuchen, ob sich damit die Entwicklung einer Alzheimer-Erkrankung über einen längeren Zeitraum verfolgen lässt. Berron: „Informationen darüber, wie schnell das Gedächtnis mit der Zeit nachlässt, sind für Ärzte und Patienten wichtig. Sie sind auch für klinische Studien relevant, da neue Behandlungen darauf abzielen, die Geschwindigkeit des kognitiven Abbaus zu verlangsamen.“ Der Neurowissenschaftler beschreibt die Herausforderungen: „Um solche Selbsttests weiterzuentwickeln, müssen die klinischen Daten eines Patienten mit Selbsttests außerhalb der Klinik, aus dem Alltag, verknüpft werden. Das ist keine leichte Aufgabe, aber wie unsere aktuelle Studie zeigt, macht das Forschungsfeld dabei Fortschritte.“
Originalveröffentlichung
A Remote Digital Memory Composite to Detect Cognitive Impairment in Memory Clinic Samples in Unsupervised Settings using Mobile Devices, Berron et al, npj Digital Medicine (2024), DOI: 10.1038/s41746-024-00999-9, URL: https://doi.org/10.1038/s41746-024-00999-9
Über das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE)
Das DZNE ist ein Forschungsinstitut für neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und ALS, die mit Demenz, Bewegungsstörungen und anderen schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit einhergehen. Bis heute gibt es keine Heilung für diese Erkrankungen, die eine enorme Belastung für unzählige Betroffene, ihre Familien und das Gesundheitssystem bedeuten. Das DZNE hat zum Ziel, neuartige Strategien der Vorsorge, Diagnose, Versorgung und Behandlung zu entwickeln und in die Praxis zu überführen. Es hat bundesweit zehn Standorte und kooperiert mit Universitäten, Universitätskliniken und anderen Institutionen im In- und Ausland. Das DZNE wird staatlich gefördert, es ist Mitglied der Helmholtz-Gemeinschaft und der Deutschen Zentren der Gesundheitsforschung. www.dzne.de
Medienkontakt
Dr. Marcus Neitzert, Stabsstelle Kommunikation Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Tel.: 0228 43302-267, E-Mail: