Monja Schünemann

Monja Schünemann ist Medizinhistorikerin an der UMMD mit einem ungewöhnlichen Werdegang. Sie erforscht die Sinnesgeschichte der Klinik und den Einfluss von Lärm auf Intensivstationen. Erfahren Sie im Interview mehr über ihre Forschung.

Frau Schünemann, Sie sind seit dem 1. Februar 2024 Medizinhistorikerin an unserer Fakultät. Ihr Werdegang ist nicht ganz „gewöhnlich“. Könnten Sie uns mehr darüber erzählen?

Monja Schünemann: Nun, ich persönlich halte meinen Werdegang gar nicht für so ungewöhnlich. Während meines Fachjahrs als Pflegedienstleitung habe ich eine Abschlussarbeit zur Pflegegeschichte verfasst, die mir klarmachte: Das ist es, was ich machen möchte! Dieses Fachjahr ermöglichte es mir, zu studieren. Also habe ich Geschichte und Kunstgeschichte mit dem Schwerpunkt Mittelalter studiert. Während meiner Zeit als studentische Hilfskraft habe ich an einem Projekt zur Emotionengeschichte der Krebskrankheit mitgewirkt und ab diesem Zeitpunkt war für mich klar: Medizingeschichte ist das, was ich machen möchte. Geschichte bietet mir die Möglichkeit, zuzuhören, komplexe Zusammenhänge zu verstehen, und wer hat schon die Gelegenheit, jeden Tag eine kleine Zeitreise zu machen?

Monja SchünemannFoto: Monja Schünemann. Fotografin: Melitta Schubert/UMMD

Vor Ihrem Studium waren Sie 30 Jahre lang als Krankenschwester und als Pflegedienstleitung tätig. Hat Ihre praktische Erfahrung in der Pflege einen Einfluss auf Ihre aktuelle Arbeit im Bereich der Medizingeschichte?

Monja Schünemann: Meine Erfahrung in der Pflege beeinflusst meine Arbeit nicht direkt, aber mein berufliches Wissen bringt definitiv Vorteile mit sich. In meiner Dissertation habe ich zu einem mittelalterlichen Seuchenausbruch im 12. Jahrhundert geforscht. Die Erzählweise in einem lateinischen Gedicht aus dieser Zeit war sehr verschlüsselt. Mein Pflegewissen half mir dabei, Bereiche der scholastischen Medizin des Mittelalters leichter zu verstehen. Derzeit arbeite ich an einem Projekt, das die Sinnesgeschichte der Klinik von 1800 bis 2020 erforscht. Ich denke dabei pflegerische Quellen grundsätzlich mit, was mir einen anderen Einblick in die Sinneserfahrung ermöglicht als allein medizinische Traktate und Akten. Meine Arbeit ist grundsätzlich interdisziplinär und ich habe mich viel mit Ethik beschäftigt. Jetzt bin ich genau dort, wo ich sein möchte.

Sie haben im Jahr 2022 das Buch „Der Pflege-Tsunami“ veröffentlicht. Worum geht es in diesem Buch und warum ist es so entscheidend?

Monja Schünemann: „Der Pflege-Tsunami“ beschäftigt sich mit dem akuten Fachkräftemangel in der Pflege. Bis zum Jahr 2030 wird eine halbe Million Pflegefachpersonen fehlen, während die Anzahl der Pflegebedürftigen stetig steigt. Das stellt nicht nur eine Herausforderung für die Gesellschaft dar, sondern betrifft auch Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, da der Großteil der Pflegearbeit von Frauen geleistet wird. Dem kann ich nicht einfach gelassen entgegenblicken, ohne etwas zu tun. Vielfach fragt man sich, weshalb so viele dem Pflegeberuf den Rücken kehren und dann ist schnell die Rede von schlechten Arbeitsbedingungen. Aber was versteht man unter schlechten Arbeitsbedingungen? Und was geht uns verloren, wenn wir die pflegenden Kolleginnen und Kollegen einfach so ziehen lassen? Wo sind die Unterschiede zu anderen Ländern und wo die viel zu langen Kontinuitäten, die uns vom europäischen Pflegen abschneiden? Ich betrachte Pflege als meine Verantwortung und habe deshalb dieses Buch geschrieben, um auf die dringende Notwendigkeit von Veränderungen aufmerksam zu machen.

Ihr neues Forschungsprojekt befasst sich mit dem Lärm auf Intensivstationen. Warum ist dieses Thema für Pflegende und Mediziner wichtig?

Monja Schünemann: Die Geräuschkulisse in Krankenhäusern hat sich im Laufe der Zeit stark verändert und dies wirkt sich auf das Wohlbefinden von Patienten und Personal aus. Mein Forschungsprojekt untersucht nicht nur den Lärm, sondern auch die anderen Sinneserfahrungen auf Intensivstationen - das Riechen, das Schmecken, das Fühlen und das Sehen. Dies ist wichtig, um zu verstehen, wie diese Umwelt das Erleben und die Genesung der Patienten beeinflusst und wie wir die Arbeitsbedingungen für das Pflege- und medizinische Personal verbessern können.

Wie hat sich die Geräuschkulisse in der Klinik in den letzten Jahren verändert?

Monja Schünemann: Die Veränderungen in der akustischen Umgebung der Klinik in den letzten 220 Jahren sind faszinierend. Früher war zum Beispiel die Suche nach Ruhe in der Pflege ein wichtiger Aspekt. In den Krankensälen waren aber bis zu 30 Patienten untergebracht und es war, obwohl man um Ruhe bemüht war, unfassbar laut. Draußen rumpelten Kutschen, der einzige Ofen im Saal knisterte, man durfte nicht flüstern, aber auch nicht laut reden. Die Glocke weckte die Pflegenden, die auch in der Klinik wohnten, Krankentransporteure kommunizierten per blasebalgbetriebener Trillerpfeife mit dem Kutscher.

Heute hat sich die Soundscape der Klinik drastisch verändert. Neue Geräusche wie Intensivalarme, Klingeln und Telefonschrillen sind hinzugekommen, während andere verloren gegangen sind. Die Entwicklung der Alarmtöne und ihre Auswirkungen auf die Teams sind dabei besonders spannend.

Und auch die Sprache wurde weitestgehend durch Signaltöne ersetzt, was eine interessante Entwicklung in der Mensch-Maschine-Beziehung mit sich bringt. Heute klingeln wir, kreuzen an, lesen Monitore, die piepen – alles hat spezifische Töne. In der digitalen Welt sehen wir sowohl die Vereinsamung des Menschen im Arbeitsprozess als auch neue Chancen, wenn wir Töne und Signale zur Stimulation bestimmter Belohnungszentren nutzen. Viele empfinden diese neuen Klänge als störend, was auch durch Messungen bestätigt wird. Doch wo bleibt in diesem Soundscape unsere Fähigkeit zum Kommunizieren, zum Miteinander-Reden und zum Abschalten in der Freizeit? Wie suchen wir heute Ruhe, und wie beeinflusst das jahrelange Arbeiten in lauten Umgebungen unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden?

Welche Veränderungen erhoffen Sie sich durch Ihre Forschungsarbeit für die Pflege- und Medizinbranche?

Monja Schünemann: Ich persönlich halte sowohl die Medizin als auch die Pflege und viele andere Gesundheitsberufe als zutiefst sinnliche Berufe. In dieser Umgebung interagieren wir mit den Patienten auf den verschiedenen bereits erwähnten Sinnesebenen. Ich hoffe, dass meine Forschungsarbeit dazu beiträgt, ein tieferes Verständnis für die Bedeutung dieser sinnlichen Dimension in der Medizin und Pflege zu schaffen. Es ist interessant, wie Anweisungen aus dem Jahr 1793 in modernen Intensivmedizinbüchern von 2019 wiederzufinden sind, wenn auch mit leicht abgewandelten Begründungen. Dort heißt es: Die Klinik ist ein Ort, der Hochleistungsmedizin mit sinnlichen Erfahrungen verbindet - ein Ort zwischen Natur und Kultur. Fand noch Virchow, ein Patient müsse in guter Luft in einem schönen Park umhergehen können, um zu gesunden, sind viele Bauten heute eher funktionell und wirken kalt und unpersönlich. Wenn Sie wochenlang an einer Beatmungsmaschine liegen, ist es unvermeidlich, dass deren Töne auf Sie einwirken. Wo ist sie da, die allgemein beschworene Sinnlichkeit, die Empathie, die Ruhe und das Erleben? Viele glauben, früher wäre Klinik leiser gewesen. Das lese ich jetzt erstmal nicht aus den Quellen, aber mitmenschlicher und auf einer anderen Ebene sinnen-freudiger war es aber wohl. Indem wir also die Veränderungen in der Klinikumgebung und ihre Auswirkungen auf das Erleben der Patienten und des Personals untersuchen, können wir möglicherweise neue Wege finden, um eine humanere und sinnlichere Gesundheitsversorgung für alle Beteiligten zu gewährleisten. Denn es ist wichtig zu erkennen, dass die Klinikumgebung nicht nur funktional, sondern auch sinnlich und persönlich sein sollte.

Vielen Dank für das Gespräch über Ihre spannende Arbeit und Forschung in der Medizingeschichte!

Letzte Änderung: 26.04.2024 - Ansprechpartner: Webmaster